Online-Beratung und das mögliche Unbehagen in der neuen Kultur-Technik
«Jeder Forschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einem fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen.»
Robert Musil in «Mann ohne Eigenschaften»
Sitzungen, Beratungen, Unterricht, Bewerbungsgespräche, Yoga und vieles mehr per Online-Konferenzen: Was vor einigen Monaten eher einer kleinen Gemeinschaft als selbstverständlich galt, ist nun in der Lebens- und Arbeitswelt einer grossen Mehrheit angekommen. Dadurch hat sich die «kollektive digitale Lernkurve» rasant entwickelt und übt bereits ihren Einfluss auf das Arbeitsleben aus.
An Empfehlungen, wie mit Online-Medien effektiv und effizient umzugehen ist, mangelt es nicht, und wir wollen gar nicht erst in diesen Kanon über die verheissene Beherrschung von Raum und Zeit einstimmen. Als BeraterInnen betrachten wir es vielmehr als unsere Aufgabe, ein solches Phänomen aus der Profession heraus differenziert-kritisch zu würdigen – auch weil speziell die audio-visuelle Beratung vermehrt Aufmerksamkeit erhält. Es liegt uns daran, mit unseren Überlegungen, resultierend aus den gemachten Erfahrungen und Beobachtungen der letzten Wochen, die Selbstbestimmung und Selbstfürsorge von Menschen in der Arbeitswelt für nachhaltig gelingendes Handeln zu stärken. Folgende Aspekte sehen wir dazu als zentral an.
Ohne Zweifel haben die Online-Zugänge viele wichtige oder gar existenzielle Möglichkeiten im Rahmen des «Lock down» in der Corona-Pandemie eröffnet. Die Vorteile dieser medialen Erweiterung, spontan und mit geringem Aufwand in Kontakt mit anderen zu kommen um gemeinsame Vorhaben zu realisieren, möchten viele von uns auch in einer «neuen Normalität» nicht mehr missen. Wir haben erfahren und damit umzugehen gelernt, dass viel Selbstverständliches wegfällt, und dafür anderes einen neuen Akzent bekommt. So will etwa der Auftritt aus dem Homeoffice gut gestaltet sein, und die ungewohnte Distanz erfordert mitunter Abstimmungen, die eine neue Form von Nähe schaffen. Ohne Zweifel haben wir neben technischen auch weitere Kompetenzen erworben.
Gleichzeitig besteht das Risiko, dass die Form statt der Inhalt in den Vordergrund rückt. Dies wird durch den Umstand begünstigt, dass sich in Gruppen und Teams die Dynamik verändert. So verteilen sich möglicherweise Rollen neu, z.B. wenn bisher eher zurückhaltende Teilnehmende mit einer hohen Affinität mit dem Online-Medium sich einen höheren Status erwerben. Für die Sicherstellung der notwendigen Arbeitsfähigkeit und die Verwertung der entstandenen Chancen müssen diese Effekte im Rahmen gehalten und die Kräfte u.U. neu kalibriert werden. Hier sind speziell die Sitzungsleitungen gefordert, gleichzeitig können alle Teilnehmenden mitverantwortlich dazu beitragen.
Als eine der wesentlichsten Herausforderung betrachten wir, im Vergleich zu Präsenztreffen, die Einschränkung des persönlichen Kontakts zwischen den einzelnen Teilnehmenden bei Online-Treffen. So sind vor allem nonverbale Eindrücke nur begrenzt erfassbar und schränken die Wirkung einer Mitteilung wesentlich ein, wenn man bedenkt, dass 55 % durch die Körpersprache, 38 % durch den stimmlichen Ausdruck und lediglich 7 % über den sprachlichen Inhalt transportiert wird.
Genau hier zeigen sich die ausgeprägten analogen Stärken der (Präsenz-)Beratung: Ganzheitliche Wahrnehmung von Personen und Situationen und das antizyklische Setting zur üblichen, bereits stark mit digitalisierten Medien überlasteten Arbeitswelt. Erst durch diesen Musterbruch können Lösungen jenseits von «mehr desselben» entstehen.
In wie weit frau und man sich dem sozialen Druck zur Teilnahme an digitalisierten Anlässen im Rahmen von beruflichen Verpflichtungen trotz Unbehagen zu entziehen vermögen, bleibt offen. Wir empfehlen eine gut durchdachte inhaltliche und technische Vorbereitung, die Gestaltung eines persönlich stimmigen Auftritts und in der Leitungsfunktion das Einplanen von genügend Zeit für das Ankommen im virtuellen Raum und Pausen.
Im Bereich der Online-Beratung sind wir der Ansicht, dass unter gewissen Bedingungen Distanz-Beratungsformen in einem Prozess, der mit einem Präsenztreffen gestartet wurde, ein durchaus sinnvolles weiterführendes (oder überbrückendes) Element darstellen können. Ergänzend zu den aktuell sehr im Vordergrund stehenden Video-Konferenzen sei z.B. auch der Austausch via E-Mails als entschleunigende und somit kontemplative Form wertvoller Reflexion empfohlen.
Über das Teilen Ihrer Erfahrung mit Online-Anlässen und das Kommentieren unserer Sichtweisen würden wir uns sehr freuen!
Quellen:
- Freud, Sigmund (1930). Das Unbehagen in der Kultur. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
- Heller, Jutta; Triebel, Claas; Hauser, Bernhard & Koch, Axel (Hrsg.) (2018). Digitale Medien im Coaching. Grundlagen und Praxiswissen zu Coaching-Plattformen und digitalen Coaching-Formaten. Wiesbaden: Springer.
- Mehrabian, Albert (1967). Die 7-38-55-Regel. (https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Mehrabian#cite_note-3 abgerufen am 22. April 2020)
- Ploil, Eleonora Oja (2009). Psychosoziale Online-Beratung. München: Ernst Reinhardt Verlag.
- Schäfer-Berninger, Elke (2018). Online-Coaching. Wiesbaden: Springer.
Publiziert am 17. Mai 2020
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